An Daphnens Kanarienvogel
Ludwig Heinrich Christoph Hölty
Liebes, trautes Vögelchen, ach, wie ruhig
Schläfst du, mit dem nickenden Köpfchen unterm
Flügel, träumst Gesänge des vorgen Tages,
Pickest ein Stücklein
Zucker, oder was dich für schöne Träume
Letzen. Neidenswerther, ach, neidenswerther
Ist dein Loos, mein Vögelchen, als mein düstres
Trauriges Schicksal.
Nie umschwebt die Schwinge des Balsamschlummers
Meine naßen sinkenden Augen. Laura
Klopfet mir in jechlichem Puls, und Laura
Fliehet mich Armen.
O was frommt das Leben mir ohne Laurens
Blick und Kuß! O wandelten mich die guten
Götter in ein Wesen, wie du, mein kleiner
Fröhlicher Vogel!
Ach, dann wollt' ich Lauren entgegenschwirren,
Mich auf ihren niedlichen Armen wiegen,
Auf der weißen Schulter ein Minneliedgen
Täglich ihr zwitschern.
In die Silbersaiten des Flügels girren,
Die ihr kleiner fliegender Finger weckte,
Girren, bis das sinkende Sonnenroth die
Fenster bemahlte.
Nein, dann wollt' ich wahrlich mit keinem König,
Kniet' auch halb Europa vor seinem Throne,
Tauschen. O dann würden mich selbst die guten
Götter beneiden.
1772
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